Ich war viele Jahre lang mit einem Truck und Kleingruppen als Reiseleiterin in Chile unterwegs – unter anderem mehrmals im Jahr auf der Carretera Austral entlang der wilden zerklüfteten südlichen Pazifikküste. In dem häufig sehr regennassen Gebiet mit damals noch schmalster Schotterpiste und abenteuerlichen Holzfähren oder -brücken erlebten wir so einiges. Mit Erdrutschen und einer daraufhin stundenlang gesperrten Strecke musste immer gerechnet werden.
In Erinnerung an diese Zeit entstehen Bilder aus üppigstem nassen Grün in meinem Kopf – bemooste Bäume, Kletterbambus, leuchtende Blüten z.B. der chilenischen Fuchsien sowie die riesengroßen Blätter des Rhabarbergewächses Nalca, welches wir nicht selten als Regenschirm nutzten. Steile bewachsene Berghänge reichen bis zum Ozean hinab, dessen Ufer sich in dieser Region als verschlungene Linie entlang der unzähligen Fjorde entlangzieht, aus denen wiederum ebenso saftig grüne Inseln herausragen. Gletscher hängen über den höchsten Gipfeln des Grüns und ergießen sich in Wasserfällen oder Abflüssen direkt in den Pazifik.
Es ist eine beeindruckende, scheinbar unbezähmbare Region, die zu den regenreichsten unserer Erde gehört. Sie war lange komplett unerschlossen. Wer heute auf der Carretera Austral unterwegs ist, kann auf den noch nicht asphaltierten Abschnitten und bei Dauerregen gewiss noch nachempfinden, wie wild, ja gar menschenfeindlich Südchile einst galt. Erst militärstrategische Gründe während der Militärdiktatur unter General Pinochet sollten Maßnahmen zur Anbindung der bis dahin abgeschnittenen Gegend mit nur ganz geringer Besiedlung zur Umsetzung bringen.
Doch gehen wir in die Zeit davor… In die Zeit, in der in Europa an vielen Orten Hunger herrschte und junge Männer von einer besseren neuen und freien Heimat träumten. Die vier jungen sudetendeutschen Männer aus dem böhmischen Dorf Rossbach Otto Uebel, Karl Ludwig, Walter Hopperdietzel und Ernesto Ludwig hatten Reiseberichte des bekannten Geografen Hans Steffen gelesen und waren davon wie elektrisiert. Anfang der Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts sind sie per Schiff aus dem von der Wirtschaftskrise gebeutelten Deutschland ins östliche Patagonien gereist, folgten dabei den Spuren Steffens und ließen sich schließlich mit einem kleinen Ruderboot in einem einsamen Fjord namens Puyuhuapi aussetzen.
Wie oft habe ich mir überlegt, welch ein Kampf dieser Neuanfang der vier Pioniere gewesen sein muss. Der Wald wucherte bis ans Meer, man musste erstmal eine Schneise schlagen, um dann zu versuchen, sich eine erste einigermaßen trockene und warme Hütte zu bauen. Und das bei all dem vielen Regen. Mithilfe von Brandrodung sowie im Verzicht auf jeglichen Komfort verbunden mit einem unglaublichen Kampfgeist schafften es diese vier Männer, dass sie 1935 das Dorf Waldhagen am Ende des Fjords gründen konnten. Der Name Puyuhuapi stammt von den Huilliche – den Ureinwohnern der Gegend – und bedeutet “Ort der violetten Blumen”. Die Siedlung wurde schließlich in Puyuhuapi umbenannt.
Die Männer holten später ihre Frauen und weitere Familienangehörige nach und alle zusammen waren gewillt, das abgeschiedene Pionierdorf mithilfe von Landwirtschaft und Fischerei mehr und mehr aufzubauen. Zur Hilfe warben sie Einheimische der chilenischen Insel Chiloé als Arbeiter an, die mit ihren Familien nach Puyuhuapi übersiedelten. Aus Hütten wurden mit Schindeln gedeckte stattliche Holzhäuser – viele mit Gärten, in denen heute üppige Hortensien Farbtupfer setzen und leckeres Gemüse wächst.
Die Pionierfamilien waren überaus erfinderisch, was sie sich zur Sicherung ihrer Existenzgrundlage aufbauten. Robert Uebel war in der alten Heimat Textilfabrikant gewesen und Ende des Zweiten Weltkriegs eröffnete er zusammen mit Walter Hopperdietzel eine mehrgeschossige Teppichweberei, aus der ab 1948 die ersten gewebten Waren verkauft wurden. Das Geschäft ging später von Walter Hopperdietzel an seinen Neffen Helmut über, der die Fabrik zusammen mit seiner Frau Verónica weiterführte. In dieser Zeit kamen wir mit unseren Reisegruppen regelmäßig in Puyuhuapi vorbei und besichtigten selbstverständlich auch jedes Mal die Teppichfabrik der Hopperdietzels. Immer wieder wurden Teppiche von unseren Kunden gekauft oder auf Maß bestellt – die Qualität war bestens, der Preis angemessen und die Lieferung zuverlässig. Unser Reisefahrzeug tankten wir an der einzigen Tankstelle des Ortes direkt an der Teppichfabrik auf und erledigten auch den Einkauf im großen Krämerladen nahebei – selbstverständlich beides ebenfalls in den Händen der Großfamilie Hopperdietzel…
Nach gut 70 Jahren musste die legendäre Teppichfabrik von Puyuhuapi leider geschlossen werden, und zwar aufgrund von Engpässen der Schafwolle sowie Unrentabilität… Eine notwendige Modernisierung der wäre wohl zu teuer geworden. Doch die Familie Hopperdietzel war und ist geschäftstüchtig. Sie betreibt eine Bierbrauerei mit der Biermarke „Hopperdietzel“, eine Fischzucht, das Café Rossbach sowie diverse Unterkünfte.
Mit unseren Reisegruppen wohnten wir immer bei Ursula Flack in ihrer „Hosteria Alemana“. Sie war die Frau eines Hopperdietzel-Bruders, der das Holzhaus 1960 erbaute – nichtsahnend, dass daraus später einmal die erste Unterkunft des Ortes werden sollte. Señora Ursula ist in meiner Erinnerung eine echte Pionierfrau – eine stattliche Person mit großen Händen und einem gewieften Geschäftssinn. Als sie 1986 nach der Straßeneröffnung der Carretera Austral bemerkte, dass Reisende einen Platz zum Übernachten brauchen, ließ sie kurzerhand ihr großes Haus so umbauen, dass sie maximal 12 Gäste darin unterbringen konnte. Unsere Gäste schliefen in Blümchentapeten-Zimmern mit alten dunklen Möbeln und schweren Vorhängen, saßen am großen Holztisch alle gemeinsam beim Frühstück sowie beim Abendessen, welches natürlich traditionell als deutsche Hausmannskost in der riesigen Holzküche von Señora Ursula und ihren Helferinnen zubereitet wurde.
Wenn Señora Ursula gut drauf war, erzählte sie aus Vergangenheit wie Gegenwart, und aus ihrem Gesicht tastete sich eine sonst oft versteckte Weichheit, die sie in ihrer ansonsten robusten Erscheinung ab und an doch auch zerbrechlich erscheinen ließ. Señora Ursula hatte immer gute Ideen, so war sie die Urheberin des Café Rossbach. Im Sommer war dort stets genug los, aber im Winter fehlten die Reisenden. Kurzerhand fuhr sie in die nächstgroße Stadt, kaufte eine Discokugel und eröffnete während der Winterzeit regelmäßig im Café Rossbach eine Disco, die alsbald Gäste von weither heranströmen ließ, weil es ja sonst nichts gibt in der Gegend.
Wenn wir in dem 500-Seelendorf Puyuhuapi bei Señora Ursula ankamen, begrüßte sie uns immer mit den Worten „Willkommen am Mittelpunkt der Welt“! Und wenn es aus Kübeln schüttete, meinte sie nur „gestern schien noch die Sonne und morgen scheint sie wieder“. Bis heute benutze ich beim Blick in einen mit Wolken verhangenen Himmel einen Ausdruck, den sie stets benutze: „Ich sehe blaue Augen am Himmel“.
Diese Frau, die durch ihre Erscheinung sowie durch ihre Präsenz jeden Raum füllte und auf mich auch manchmal etwas einschüchternd wirkte, war andererseits immer extrem positiv und voller Energie für neue Pläne und Visionen. Das prägt mich bis heute.
Wenn Sie nach Puyuhuapi reisen möchten, können Sie dies am besten mit einem Mietwagen oder mit dem Fahrrad tun. Der Ort hat selbstverständlich an Annehmlichkeiten gewonnen, verströmt aber dennoch den alten Pioniergeist durch seine in die Bucht geduckten Holzhäuser, die wilde wunderschöne Natur der Umgebung, die zu Wandertouren und Erkundungen einlädt, sowie durch die Namen von Brücken und Straßen, die an die Erstgründer und ihre Familien erinnern. Längst werden Sie an der Tankstelle, im Café Rossbach und in den Unterkünften von den Kindern oder Enkelkindern der Erstpioniere bedient. Aber sicher sprechen einige von ihnen immer noch Deutsch mit dem typischen mitgebrachten Akzent und wenn Sie ein bisschen ins Gespräch kommen, können Sie den alten Pioniergeschichten lauschen…
Ihnen wünsche ich eine gute Zeit
Martina Ehrlich